Der Mund'nschafer

Der Sommer des Jahres 1634 war für Telfs eine besonders traurige Zeit, denn abermals wütete in der ganzen Gegend die fürchterliche Pest. Schon lange hatte sich die unheimliche Seuche Opfer aus den verstreuten Gehöften von Telfs und Umgebung geholt, und sie alle wurden hinausgeführt auf den Pestfriedhof nach St. Moritzen oder nach St. Georgen, wo sie in kunstlos zusammengefügten Särgen, oder gar nur in ein Leintuch eingenäht, still in die Grube gesenkt wurden.

Auch den Mund'nschafer sollte schweres Unglück treffen. Schon seit Jahrzehnten trieb er genügsame Schafe auf die Hänge der Hohen Munde, damit sie besser gedeihen würden und im Herbst viel Wolle und Fleisch nach Hause bringen konnten. Damals war die Hohe Munde noch kein so kahler Steinkoloß wie heute. Es gab Gräser für Schafe und Wild, Kräuter für den Wurzelgraber, den Mund'nschafer, und Bäume und Almrosen bis hinauf zum Mund'nspitz.

Kaum aber war's im Inntal, da stand eines Morgens schon in aller Früh' der Schafermartl mit vollgepacktem Schnerfer vor seiner Haustür in der "Gragga" und erwartete die Schafherde, die sein Bub, das Hiesele, eben vom Oberdorf herabtrieb.
"Also, Trina, pfiat di Gott und bleib g'sund. Ålle Suntig i'der Friah kemmen mir auf a Springl hoam. Då richtesüt ins a kräftigs Essn, derweil mir in die Kirchn gian. Nåcher påckn mir für a Wochn inser Futterage in n' Schnårfer, und aui geat's wieder auf die Munde. – Und nou epas! Wenn wås Extras vorkemmen sollt, dass i hoamgian soll, nåcher zünd't um zehne z'nåchts drei Kerzen un und stellsüt uane aufs Kuchlfensüter, uane aufs Stubnfensüter und die dritte aufs Kåmmerfensüter. Des isüt für mi 's Zeichen, dass i g'schwind hoam soll! Also pfiat di!"

"Es wird eper nix fiarkemmen! Martl, paß au, dass enk nix passiert; gib aufs Hiesele recht åcht und kemmt's oft und gsund hoam!" Das 10-jährige Hiesele mit der umgehängten Salztasche nahm noch rührenden Abschied von der Mutter, denn es war das erste Mal in seinem Leben, dass er sie für längere Zeit verlassen musste.
"Paßt's auf die Hoachwetter au; es isüt wegen dem Stoanschlåg bei der Hoachklåmm!" "'S Salz streisüt für die Schåf beim Hochgries au; es isüt dert beim schlechten Wetter wianiger windig als auf der Goaståler Seite!"
"Biabl, paß au, dass du nit oakuglsüt!"

Solche und ähnliche Worte wurden den beiden Hirten während ihres Durchzuges durch Telfs zugerufen. Tagtäglich konnte nun die Mutter in Telfs den aufsteigenden Rauch des Mund'nschafers beobachten. Der Sonntag freilich war ein besonderer Festtag für Mutter, Vater und Sohn. Alle drei sahen sich wieder und waren, wenn auch nur für kurze Zeit, beisammen. So verging der halbe Sommer. Eines Abends lag das Biabl wie so oft frühzeitig auf seinem Mooslager und schlief den Schlaf des Unschuldigen. Der Schafer saß vor seiner Hütte, das Hündchen zu seinen Füßen. Plötzlich fuhr der Martl in die Höhe, dass das Tier erschrak. Zwei Lichter brannten in Richtung seiner Behausung in Telfs, und jetzt wurde noch ein drittes Licht angezündet. Zitternd weckte er das Hiesele.

"Hiesl, kimm, schaug! Wo stian denn die drei Liachter dert?"
"Våter, die sein bei inserm Haus; die håt di Muater hing'sütellt. Wås weard eppar deis bedeitn."
"Hiesl, i gea g'schwind hoam und schaug, wås es gibt! Weil's iatz schun a pår Tåg so hoaß gwesn isüt, kannt leicht sein, dass morgen a Wetter kimmt! Geasü morgen in der Friah die Schåf suchn und treibsüt si auf die Buachneralplseite und streisüt 's Salz aufs Hoachgrias. Paß åber au, dass du nit oakuglsüt, kannsüt maustot sein!"

Unter Beteuerungen, ja recht aufzupassen, verkroch sich das Biabl wieder in sein Mooslager. Der Schafer stürmte talwärts, Schlimmes befürchtend. Zu Hause angekommen, fand er seine Trina in der Schlafkammer. Wie gelähmt blieb er an der Tür stehen, das Blut erstarrte ihm in den Adern, denn sein Weib rief ihm mit matter Stimme entgegen: "Martl, Hiesl! Um mi steat's schlecht. Mi håt der Schwårze Toat! I wear's nimma lång dermåch'n! Behiat enk Gott!" - Noch ein paar Atemzüge, und Martls Weib war tot.

"Der Herr geb' dir die ewige Ruah! Trina, kimm, nimm mi und's Hiesele a mit!"
Aber Trina kam nicht mehr zum Leben, und niemand tröstete den vor Schmerz bebenden Martl. Am nächsten Tag, es standen schon frühmorgens schwere Gewitterwolken im Westen, schickte der Martl einen Boten zu seinem Biabl hinauf, um ihm die traurige Nachricht zu übermitteln. Martl aber nahm, wie es die Hinterbliebenen der an der Pest Gestorbenen tun mussten, Pickel und Schaufel und ging traurig wie noch nie in seinem Leben nach St. Moritzen, um im Pestfriedhof ein Grab für sein treues Weib zu schaufeln. Abends war das Begräbnis der Trina. Der in der Früh abgesandte Bote kam wohl zurück, aber ohne das Biabl.

"Håb ihn nirgends g'fundn, håb pfiffn und g'schriarn, aber koa Antwort kriegt. 'S Hintl isüt zwoamol zur Hittn kemmen, aber glei wieder aua auf die Munde! Es håt soviel schrecklig g'wittert, sinsüt war i schun auf die Munde aua! 'S Biabl weard hålt irgendwou unterg'sütandn sein bei dem furchtbårn Wetter, und 's Hintl håt ihn im nåssn Grås verloarn!" Das war des Boten besorgniserregender Bericht.

Die schwerste Arbeit, die der Martl jemals in seinem Leben verrichtet hatte, das Begraben seiner treuen G'sponsin, war nun getan. Dumpf und niedergeschlagen verließ er anderntags Telfs, um zu seinem Biabl und den Schafen zu steigen. Nach langer und mühsamer Wanderung erreichte er die Hütte. Das Hündchen lag vor derselben und begrüßte den Ankömmling mit heiserem Gebell, aber das Biabl kam nicht. Den vorhandenen Speisevorräten nach war Hiesl schon seit gestern früh nicht mehr in der Hütte gewesen. Dem Wurzelgraber wurde bange. Er ging auf die Suche, er schrie, er pfiff, nichts rührte sich. Er stieg hinunter nach Buchen und fragte nach, niemand hatte den Hiesl gesehen oder gehört. Er ging zurück zur Hütte und wartete. Es wurde Abend, aber Hiesl blieb verschwunden. Da wurde dem Schafer furchtbar angst um sein Kind. Er zündete ein großes Feuer an, zum Zeichen, dass der Vater da sei, er blies ins Bockshorn, hörte nach den Wänden und Abgründen, aber nichts regte sich. Nur der Widerhall klang zu ihm.

"Hilfe für mei Biabl! - Hilfe!" schrie der Martl endlich wie wahnsinnig auf, und dann hieb er mit seiner Axt die stärksten Zuntern ab, warf sie zu vier Haufen übereinander und zündete sie an, als Zeichen, dass Männer zu Hilfe kommen sollten, es sei etwas passiert. Hochauf flammten die vier großen Reiserhaufen. Bald stand ganz Telfs auf den Beinen, wohl wissend, dass ein Unglück geschehen sein musste. Man wusste ja um den Tod der Trina, man wusste vom langen Ausbleiben des Biabl. Man rechnete sogar schon damit, dass das Hiesele abgestürzt sei, aber man ahnte noch mehr: der Martl musste den Verstand verloren haben.

Der Abendwind hob die Flammen turmhoch empor, bald verschmolzen die vier Feuer zu einem einzigen, und man wusste nun sicher: die Umgebung hatte Feuer gefangen. Nicht lange dauerte es, als ein Stück weiter gegen das Kochental ein neuer Feuerherd auftauchte und nach kaum einer halben Stunde etwas weiter herunten wieder neue bis hin zum Buchner Alpl. Der arme Martl wollte in seinem Wahn dem Hiesl den Weg zeigen.

Gegen Mitternacht loderten schon Tausende von Flammen bis halb auf die Munde hinauf. Es war ja auch kein Wunder, dass die mit Pech gesättigten Latschen Feuer gefangen hatten, und dass der seit Wochen ausgetrocknete, am Vortag vom Gewitterregen kaum angefeuchtete Grasboden schnell zu brennen begann. In kurzer Zeit hatte sich das entfesselte Element über eine riesige Fläche ausgebreitet. Alle Löschversuche wären zwecklos gewesen. Nirgends gab es Wasser, alles war trocken und dürr. Man musste zusehen, wie der ganze Berg seiner saftigen Weiden beraubt wurde.

Aber die armen Schafe! Alles, was helfen konnte, lief gegen Buchen und gegen die Niedere Munde, um die fast zweitausendköpfige Schafherde zu retten. Jeder wusste, dass die ganze Herde verloren gewesen wäre, sobald sie des Feuers ansichtig geworden wäre, denn Schafe laufen ja bekanntlich dem Feuer entgegen.

Erst nach vierzehn Tagen hörte das Rauchen und Glimmen an der Munde auf. Martl und sein Biabl waren noch immer verschollen; beinahe sechshundert Schafe waren abgängig. Da begaben sich kräftige, mutige Burschen auf die Suche nach Vater und Sohn. Das Hiesele entdeckte man endlich hoch oben an der Munde unter einer vom Blitze zerschmetterten Fichte. Der Schafer aber war abgestürzt, hatte nicht mehr flüchten können und hatte einen jämmerlichen Verbrennungstod gefunden. Die Munde jedoch blieb kahl und unbewachsen bis auf den heutigen Tag!


Quelle: Mei'r Huamat, Marktgemeinde Telfs, 1997
© Der Text wurde dem Buch "Mei'r Huamat" entnommen. Alle Rechte liegen bei der Marktgemeinde Telfs. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder in einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden."